Offener
Brief der AutorInnen
Aufführungsverbot wegen Herabwürdigung der
Wiener U-Bahn? - Ein nächster Zensurfall im "Gedankenjahr"?
Ein gefördertes Theaterprojekt mit
zeitgenössischen Wiener Autoren kann wegen eines plötzlichen
Gesinnungswandels der "Wiener Linien" nicht mehr am ursprünglich
vereinbarten Aufführungsort gespielt werden.
Offener Brief, Wien, 10.11.2005
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Michael Häupl!
Sehr geehrter Herr
Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny!
Soeben haben wir erfahren, daß die "Wiener
Linien" der freien Theatergruppe "Meyerhold unltd." nach
anfänglicher mündlicher Zusage nun
plötzlich den (von Vertretern der "Wiener Linien" der Theatergruppe
auf Anfrage selbst vorgeschlagenen) Aufführungsraum, den Revisionsgang
der
U3-Station Neubaugasse, absagen. Die für die drei Tage vom 24.26.11.2005
dort geplante Aufführung muß ins Wasser fallen, ohne daß
man es von Seiten
der "Wiener Linien" für wert erachtete, die plötzliche
Absage zu begründen - aus unserer Sicht nicht eben eine demokratische
Vorgehensweise. Zudem
erfolgt die Absage zu einem Zeitpunkt, an dem bereits Geld und Arbeitskraft
für das Vorhaben investiert wurden und ein Ersatzraum
kurzfristig nicht mehr zu finden und anzumieten ist. Die Bitte um Hilfe
bei der Schadensbegrenzung von seiten "Meyerhold unltd." wurde
von den
"Wiener Linien" abgelehnt.
Es handelt sich um ein Theaterprojekt, das auf den Originaltexten
von u.a.fünf unserer Mitglieder, Bodo Hell, Peter Pessl, Birgit Schwaner,
Lisa
Spalt, Christian Steinbacher, alle anerkannte heimische Autor/inn/en,
beruht. Das ganze Projekt, eine Theaterinstallation aus sieben
Originaltexten namens "Whispering Bones" (weitere Autoren: Margareth
Obexer, Berlin, Ulf Stolterfoht, Berlin), wurde von der Stadt Wien und
vom
Staat Österreich gefördert und stellt mit seinem von Beginn
an bekannten Thema - der Entstehung von Verschwörungstheorien anhand
der Frage nach dem
Verbleib von Hitlers Schädel - auch einen Beitrag zur zeitgenössischen
Aufarbeitung des Einflusses totalitärer Ideologien wie des
Nationalsozialismus bzw. Faschismus auf unsere Gegenwart dar. Als literarisch-politisches
Sujet wäre "Whispering Bones" somit einem
"Gedankenjahr" durchaus angemessen.
Das Stückmotiv "Verschwörungstheorien"
sollte in seiner theatralen Umsetzung idealerweise unterirdisch Platz
finden, in einem fensterlosen
Raum - weshalb der U-Bahn-Gang, in dem bereits 2004 eine Veranstaltung
der "Wiener Festwochen" stattfand, bestens geeignet schien.
Da sich auch
sicherheitspolizeilich zunächst keine Bedenken zeigten, müssen
wir annehmen, daß der Bruch der mündlichen Zusage seitens der
"Wiener Linien"
inhaltliche und thematische Gründe hat - zumal im Gespräch mit
der Regisseurin die Bemerkung fiel, daß das Stück die U-Bahn
"herabwürdige",
was den "Kunden" der U-Bahn nicht "zuzumuten" sei.
Wir wissen nicht, ob sich die Verantwortlichen der "Wiener
Linien" nun tatsächlich mit den Texten unserer Mitglieder auseinandergesetzt
haben und
an interpretatorischer Unerfahrenheit (oder anderen ästhetischen
Vorlieben) scheiterten. Aber wir halten es für eine "Herabwürdigung",
wenn
durch einen öffentlichen, städtischen Betrieb in einer Stadt,
die sich ihrer Offenheit, Internationalität und kulturellen Vielfalt
rühmt,
KünstlerInnen gegenüber wieder inhaltliche Zensur geübt
werden soll.
In diesem Sinn erwarten wir von den "Wiener Linien"
die Einhaltung ihrer Vereinbarungen, auch wenn sie ihnen aus irrationalen
Gründen nicht
vorteilhaft scheinen, und bitten Sie hierbei um Unterstützung!
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Ruiss
Ergeht weiters an die Medien, an die Kultursprecher/innen
und zur
Kenntnisnahme an die Wiener Linien.
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